Kurzgeschichten:
     
  Diagnose unbekannt  
 
 

"Praxis Dr. Schönfärber, Richter," hörte Sebastian am Telefon eine melodische Frauenstimme, und er meldete sich mit seinem Nachnamen "Schubert".
"Worum geht's denn bitte, Herr Schubert?" wollte Frau Richter in geschäfts-mäßigem Tonfall wissen.
"Könnte ich bitte einen Termin bei Ihnen bekommen?" bat er unterwürfig.
Eifriges Papierrascheln durchs Telefon war die Folge.
"Ja, da hätten wir noch morgen einen Termin um viertel elf frei. Geht das bei Ihnen?"
"Wäre nicht etwas am Nachmittag nach Büroschluß möglich?" bat er noch eine Nuance unterwürfiger. "Dann müßte ich nicht extra Urlaub nehmen."
"Nein, tut mir leid," kam ohne Papierrascheln schnell die Antwort, "da sind wir schon drei Wochen ausgebucht."
"Wie bei einer Fluggesellschaft," dachte er und willigte folgsam ein:
"Also gut, morgen um dreiviertel elf," weil er den Termin nicht richtig verstanden hatte.
"Nein, um viertel nach zehn, sonst haben wir nichts mehr frei. Wie war noch ihr Name?"
"Schubert."
"Und der Vorname?"
"Sebastian."
"Und das Geburtsdatum?"
"15. Juli 1957."
"Und die Krankenkasse?"
"Teutonia."
"Ach so, privat," kam die aufatmende Antwort wie von jemandem, der in einer schlimmen Notsituation Hoffnung auf Rettung bekommt.
"Waren Sie schon ´mal bei uns?"
"Nein, noch nicht."
"Und was fehlt Ihnen?"
"Magenschmerzen."
"Gut, dann auf Wiederseh'n bis morgen 10.15 Uhr, Herr Schubert," flötete Frau Richter gekonnt unpersönlich verbindlich zum Abschied.

Pünktlich schon vor 10.15 Uhr lernte Sebastian die junge, ansehnliche Sprechstundenhilfe kennen, deren Gesicht sich erhellte, als sie den Namen des Privatpatienten Schubert hörte.
Sie nahm seine Personalien auf und bat ihn freundlich, sich noch ein paar Minuten ins Wartezimmer zu setzen.
"Es dauert wirklich nicht lange," lächelte sie ihn gewinnend an.
Sebastian befolgte ihren Rat und nahm nach kurzem Gruß neben fünf anderen Patienten Platz, die alle kaum aufschauend seinen Gruß automatisch erwiderten und in Zeitschriften weiterblätterten, während aus der Zimmerecke der Verkehrsfunksender gedämpft, aber ungefiltert auf ihre Köpfe niederrieselte.
"Ich dachte, ich bin hier beim Arzt, wo kranke, schonungsbedürftige Menschen sind, die oft nervlich angespannt und überfordert sind," überlegte er, der gern nur nach Wahl guter Musik lauschte und niemals einem ungewollten, stereotypen Endlosgedudel.
"Das darf doch nicht wahr sein, daß ein Arzt so unvernünftig ist, wo der es doch eigentlich besser wissen müßte," dachte er, beschwerte sich aber nicht, weil er beim ersten Besuch beim neuen praktischen Arzt nicht gleich als aufmüpfig registriert werden wollte. Auch fühlte er sich in einem Abhängigkeitsverhältnis, in dem er sich die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit des Mediziners nicht ver-scherzen durfte, hatte der doch alle Heilmittel und Pillen in der Hand. Also hielt er den Mund, zumal es wirklich schnell ging und er noch vor den anderen Patienten aufgerufen wurde: "Herr Schubert, bitte zur Spritze!"
Verdutzt fragte er auf dem Gang Frau Richter:
"Wozu bekomme ich eine Spitze?"
"Ach nein," entgegnete sie verlegen, "das sagen wir nur, wenn wir Privatpatienten aufrufen..." Und zwischen den Zeilen hätte er sich stolz um die bevorzugte Stellung fühlen dürfen.
Er wurde in ein fachbücherverziertes, lederbesesseltes, glattpoliertes Arztzimmer geführt, wo sein seriöses Gegenüber im weißen Kittel an dem überdimensionalen Schreibtisch und im wippenden bandscheibengerechten Riesensessel unschwer als Arzt zu erkennen war.
"Guten Morgen, Herr Schubert," las er von der Karteikarte ab. "Was führt Sie zu mir?"
"Magenschmerzen, Herr Doktor."
"Wann?"
"Bei jedem Essen. Ich bringe nichts mehr runter und habe schon etliche Pfunde abgenommen."
"Wie lange?"
"Seit etwa acht Wochen."
"Plötzlich?"
"Ach, ich hatte da einige private Probleme, vielleicht sind die mir auf den Magen geschlagen."
"Sie sind privat versichert?"
"Ja, bei der Teutonia."
Eifrig schrieb Herr Dr. Schönfärber alles mit und schaute seinem Patienten nur ab und zu fragend ins Gesicht.
"Ich frage nur wegen der Medikamente und dem Rezept. Ich schreibe Ihnen nämlich jetzt etwas auf.
Da müssen Sie einen Meßbecher vor jedem Essen einnehmen. Und hier ist eine Überweisung zu meinem Internisten-Kollegen Dr. Müller-Marius, der eine Magenspiegelung machen wird, um festzustellen, ob Sie ein Geschwür haben. Auf Wiederseh'n."
Sebastian traute sich nicht mehr nach Diät oder anderen Verhaltensvorschriften zu fragen, schon war er wieder draußen.
"Melden Sie sich bitte bei uns, wenn Sie die Untersuchungsergebnisse von Dr Müller-Marius haben," verabschiedete ihn auch Frau Richter im Vorüberhuschen.
Widerwillig kaufte er das Medikament in der Apotheke, da er noch nie ein Freund von Ärzten und Pillen war. Dennoch ließ er sich beim Heimkommen willig per Telefon einen Termin beim viel-beschäftigten Internisten geben, wo man erst in zehn Tagen eine Möglichkeit - wieder nur mit Urlaubstag - für ihn fand.
Brav schluckte er bis dahin vor dem Essen seine Medizin und verspürte - außer etwas Linderung - keine durchgreifende Besserung. Im Gegenteil schmeckte ihm das Essen jetzt auch nicht mehr, so daß er sich zu jedem noch so kleinen Häppchen zwingen mußte und immer schwächer wurde.
Noch nie hatte er einen Arzt wie Dr. Müller-Marius so herbeigesehnt.
Der Besuch spielte sich ähnlich ab wie der beim Kollegen Schönfärber, nur daß er auf nüchternen Magen ekelerregend einen Schlauch hinuntergeschoben bekam und für seine Tapferkeit trotz gelegentlichen Würgens überschwenglich gelobt wurde.
Das Ergebnis würde in einem Arztbrief an den Hausarzt geschickt, da es offensichtlich den Betroffenen nichts anging, was ihm fehlte oder auch nicht.
Ein Magengeschwür sei nicht erkennbar, was nicht unbedingt heißen müsse, daß keines da wäre. Die Beschwerden könnten aber eher vom Darm kommen, weil etwas Blut im Stuhl entdeckt worden sei. Deshalb müsse man einen weiteren Termin zur Darmspiegelung ausmachen.
Nach diesem neuerlichen Urlaubstag durfte er noch zusätzliche opfern für Ultraschall wegen Verdacht auf Gallensteine, eventuelle Bauchspeicheldrüsenentzündung, die ausstrahlen könnte, Lungenröntgen, falls etwas von dort auf den Magen drücke, eine genaue Schilddrüsenuntersuchung, und diverse spezielle Blut-, Urin- und Stuhlproben.
Sebastian magerte weiter ab, konnte er doch immer weniger zu sich nehmen, obgleich Dr. Müller-Marius nichts Gravierendes feststellen konnte außer einer leichten Unterfunktion der Schilddrüse, die zusätzlich einen eventuell gefährlich werdenden kalten Knoten aufwies, einem etwas erhöhtem Cholesterinwert, der in Verbindung mit seinem beruflichen Streß und den zu starken Blutdruckschwankungen fürs Herz oder die Herzkranzgefäße ein erhöhtes Infarktrisiko werden könnte, zumal eine beginnende Angina Pectoris sich bereits abzeichnete und auch der Zuckerwert etwas zu hoch lag, aber gelegentlich in Unterzucker abrutschte und die Gefahr eines tödlichen Zuckerkomas nicht ausschloß. Dazu ka-men noch etwas Nieren-, Leber- und Lungeninsuffizienz, sowie eine leichte, frühzeitige Verkalkung der Aorta, die man nicht aus den Augen verlieren durfte.
Nach einer weiteren Abklärung durch den Orthopäden schließlich wurde der Verdacht auf Osteoporose im Anfangsstadium leider bestätigt sowie eine damit verbundene Möglichkeit eines Bandscheibenschadens, der sich sehr wohl auch in Magenbeschwerden äußern könnte.
Zurückgekehrt zu Dr. Müller-Marius erfuhr er, daß das alles aber nicht entscheidend ausschlaggebend für so schlimme Magenschmerzen wäre, daß nicht einmal sein leichter Herzklappendefekt zum Tragen käme, sondern daß eigentlich nur noch der Blinddarm in Frage komme, der bei einer Entzündung oder gar Vereiterung in die abstrusesten Richtungen ausstrahlen könne - von einem Durchbruch ganz zu schweigen - jedenfalls genauso gefährlich wie vereiterte Mandeln, die er aber zum Glück als Kind schon herausbekommen hatte.
Eine Abklärung wäre aber nur durch eine Beobachtung im Krankenhaus ratsam, meinte Müller-Marius, und das natürlich stationär.
Da Sebastian in seinem inzwischen gravierend schlechten Gesundheitszustand ohnehin bereits krank geschrieben war, legte er sich tatsächlich für eine Woche zur Beobachtung ins Krankenhaus, wo alle bisherigen Untersuchungen sicherheitshalber ergebnislos wiederholt wurden, weil man ja nie wissen konnte.
Und als nach einer Woche die entsetzlichen Magenschmerzen immer noch nicht erklärbar waren, da brachte ihn ein Krankenwagen direkt in die Psychiatrie, konnten sie doch nicht anders als psychisch bedingt sein.
Was Sebastian dort alles sah und mit Ärzten und Patienten erlebte, schlug ihm samt der vielen bisherigen Pillen noch mehr auf den Magen, so daß er zwei weitere Medikamente gegen Depressionen, Zwangsneurosen und dazugekommene Spannungskopfschmerzen einnehmen mußte.

Wie ein Schatten seiner selbst wankte er fünf Monate später nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus zum Hausarzt Dr. Schönfärber.
"Na, Herr Schubert," begrüßte der ihn frohgestimmt, "da sind Sie ja ´mal in einem gründlichen Check-up so richtig auf den Kopf gestellt worden. Und zum Glück fehlt Ihnen laut Arztbriefen meiner Kollegen ja nichts Gravierendes."
Dazu machte er sich abermals ein paar Notizen, bevor er noch abschließend pflichtbewußt hinzufügte:
"Und wie geht es Ihnen jetzt?"
"Ich habe unerträgliche Magenschmerzen!" schluchzte Sebastian hilflos vor sich hin, bevor er völlig entkräftet vom Stuhl fiel.
"Aber, aber, Herr Schubert, Sie sollten ´mal ein paar Wochen Urlaub machen," riet da Dr. Schönfärber über den Aufwachenden auf dem Krankenbett gebeugt.
"Das kann ich doch nicht," stöhnte der Leidvolle gequält auf. "Ich hab' doch schon alle Sparkonten für die vielen Zuzahlungen geplündert und die Urlaubstage für Arztbesuche verbraucht."

 
 
 
 
 
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"Muß das denn sein?" beanstandete die 62jährige Charlotte mit etwas gerunzelter Stirn bei ihrer Tochter, daß der 13jährige Enkel Benjamin zu Weihnachten einen in ihren Augen teuren, neuen Computer mit Lernprogrammen geschenkt bekommen sollte und sie gebeten wurde, ihr Schärflein dazuzugeben.
"Ja, Mutti, das ist nicht mehr wie früher bei uns," klärte Sabine sie auf, "die Kinder brauchen einen Computer notwendig in der Schule, weil sie da den Umgang mit der Datenverarbeitung fast wie die Muttermilch in sich einsaugen."
"Da kann man ´mal sehen, wie sich die Zeiten verändert haben," dachte die aufgeklärte, noch jugendliche Seniorin. Und sie hatte immer gemeint, die Kinder würden durch sinnlose Horror- und Kriegsspiele von dem Computer verdorben.

Ein paar Wochen später trat Oma Lotte, wie sie in ihrer Familie im Unterschied zur Oma Anne genannt wurde, in Bennys chaotisches Zimmer - selbstverständlich nach Anklopfen und von drinnen gerufener Genehmigung - und fand den Enkel natürlich vor dem neuen, noch reizvollen Computer vor, aus dem ständig "peng, peng" zu hören war.
"Und ich war informiert," meinte die Oma konsterniert, "du würdest den Computer für schulische Zwecke verwenden. Ich habe dir doch deswegen extra ein paar Programme geschenkt."
"Ja, klar, aber damit bin ich heute schon längst fertig," kam so nebenbei die lässige Antwort, ohne auch nur einen Blick an den Störenfried zu verschwenden.
Da diese Oma aber kein so leicht einzuschüchterndes Dummchen war, ließ sie sich nicht einfach abspeisen.
"Zeig' mir doch ´mal, wie so ein Computer funktioniert! Ich verstehe überhaupt nichts davon." Und damit zog die Raffinierte sich den zweiten Stuhl im Zimmer heran, den sie zuvor leerschaufeln mußte, und schon saß sie neben ihrem Enkel.
Aus dem Computer ertönte nach dem vielen "peng, peng" gerade ein eigenartiges Heulgeräusch, und Benny fuhr enttäuscht hoch:
"Ach, jetzt bin ich abgeschossen worden, weil ich nicht aufpassen konnte, so'n Mist."
"Na, ja, das kannst du ja nachher noch ´mal machen," meinte ungerührt die ältere Dame. "Ich bin nicht so lange da und will jetzt was von dir lernen."
Und damit hatte sie ein fruchtendes Stichwort gegeben, denn welche Oma ließ sich schon so weit herab, daß sie sich von dem 13jährigen Enkel belehren lassen wollte.
So fühlte er sich schließlich so "gebauchpinselt", daß er den Computer abstellte, von vorn alles erklärte und sie nachmachen ließ vom Einschalten bis "Windows" Anklicken mit der Maustaste auf Textverarbeitung, denn das war wohl genau das, was die Oma interessieren konnte.
Außerdem hatte er selbst noch nicht gerade soviel gelernt, um ihr viel mehr erklären zu können. So ließ er sie ein paar liebe Briefzeilen an ihre Tochter schreiben, damit sie sich "happy" fühlte, zeigte ihr alle Möglichkeiten der Tastatur und warf mit den wenigen schon gewohnten Fachausdrücken um sich, um sie abgrundtief zu beeindrucken.
Beim Abendessen schwärmte Oma Lotte dann auch tatsächlich vor Bennys Eltern vom beneidenswerten Wissen ihres Sprößlings, auf den sie so stolz sein könnten, daß er mit geschwellter Brust zuhörte und sein Vater sich genügend schlagende Gegenbeweise pädagogisch verkniff. So schauten sich die Eltern nur wissend an, ließen die Oma in ihren Illusionen und taten gleichermaßen beeindruckt, um den Computerfleiß ihres Filius dadurch zu motivieren, obgleich sie im Innersten von seiner Leistung gar nicht so überzeugt waren und seine Show vor dem seltenen Besuch insgeheim mehr als gekonnte Schaumschlägerei ansahen.
Und so ganz Unrecht hatten sie dabei wohl nicht.
Doch die Oma war in ihrer Bewunderung noch trickreicher, als alle anderen dachten. Zum Abschied raunte sie nämlich dem kleinen, faulen Strick zu:
"Nun lern' ´mal schön am Computer, denn, wenn ich das nächste Mal komme, möchte ich wieder viel von dir erfahren. Vielleicht schaffe ich mir nämlich so ein Ding auch noch an, weil mir das so viel Spaß macht."
Benny traute seinen Ohren nicht, und es wurde tatsächlich eine ganze Zeit zu einem Anreiz für ihn, daß Oma Lotte kommen könnte und von ihm etwas lernen wollte. Doch nach mehr als vier Wochen erlahmte langsam der Eifer und die Vorfreude, vor seiner alten Dame über sich hinauswachsend glänzen zu können.
Sie erschien einfach nicht mehr.
"Was ist eigentlich mit Oma Lotte?" wollte er deshalb ganz beiläufig von der Mutter wissen. "Ich sollte ihr am Computer was beibringen, aber wenn sie nie kommt, dann hat sie eben Pech gehabt."
"Ich weiß auch nicht," meinte die Mutter ein wenig schmunzelnd, "sie verschiebt ständig ihre Besuche, weil sie soviel vorhat, wie sie mir immer am Telefon sagt. Das ist ganz was Neues, daß sie für uns keine Zeit mehr hat. Hoffentlich geht sie nicht wieder auf Freiersfüßen wie letztes Jahr, als sie uns von dem so netten Paul vorgeschwärmt hat, der dann mit ihrer Freundin abgezwitschert ist."
Beide hatten ihren Spaß, und Benny fügte noch lachend hinzu:
"Das wird sie uns doch hoffentlich nicht wieder antun, denn noch einen solchen irren Liebeskummer halt ich nicht mehr aus, auch wenn's irgendwie cool ist so'ne flotte Oma zu haben."

Weitere drei Wochen gingen ins Land, in denen Charlotte in der Versenkung verschwunden blieb und so außerordentlich im Streß war, daß sie sogar kaum telefonierte.
Was ihre Familie nicht wissen konnte, war, daß die muntere Dame sich doch tatsächlich einen Computer angeschafft hatte und einen Textverarbeitungslehrgang dazu besuchte.
Natürlich war sie dort bei weitem die älteste, aber gleichzeitig auch die beliebteste Teilnehmerin mit ihrer kecken, witzigen Art, wie sie gekonnt naiv die Hilfe der anderen viel Jüngeren herausforderte und sie sehr dankbar mit Pralinen und Plätzchen bestach.
Alle durften sie duzen und mochten ihr Lottchen, das es eigentlich faustdick hinter den Ohren hatte, wie eine Henne im Korb bei drei jungen Damen und vier forschen Herren, die sie allesamt um den Finger wickelte.
Der Kursleiter war ganz begeistert von seiner aufgeschlossenen Gruppe. So locker und lustig habe noch nie jemand bei ihm mitgemacht, betonte er immer wieder lobend. Bisher hätten alle verbissenen Ehrgeiz und Angst gehabt, sie könnten etwas unwiederbringlich falsch ma-chen und vor den anderen "alt" aussehen.
Aber hier sah nicht einmal Charlotte so alt aus, wie sie war, und genoß sichtlich die Narrenfreiheit, auch zwi-schen drin etwas zu fragen, was ihr geduldig von irgend jemand erklärt oder wiederholt wurde.
Sie war der absolute Star, so daß sich die Gruppe auch in der Freizeit manchmal noch zu einem Gläschen Wein zusammensetzte.
Was die äußerst Motivierte nur ihrer Freundin Hannelore verriet, war der Blick hinter die Kulissen, wenn sie bis spät abends oder in schlaflosen Nachtstunden immer wieder am Computer saß, das Gelernte nachvollzog und sich heimlich noch in ein zusätzliches Lernprogramm auf CD-Rom vertiefte.
Und keiner erfuhr auch von ihr, daß sie zweimal für viel Geld einen Computerfachmann hatte kommen lassen müssen, weil an dem "irren Ding" - wie sie es nannte - gar nichts mehr funktionierte, so daß sie schreckliche Angst hatte, es könnte das gesamte Programm abge-stürzt sein.
Und den zweiten Experten-Besuch benutzte sie dann tatsächlich aus einem Impuls heraus dazu, sich gleich noch ans Internet anschließen und sich eine Homepage mit E-mail-Adresse einrichten zu lassen.
Als das Kursende nach einem abschließenden Test gefeiert und Teilnahmeurkunden verteilt wurden, da bekam die Seniorin des Lehrgangs unter allgemeinem Beifall noch einen vom Kursleiter selbstgebastelten Orden für erfolgreiche Mitarbeit umgehängt und freute sich schon insgeheim diebisch auf einen Besuch bei ihren jungen Leuten.

"Oma, wo hast du denn die ganze Zeit über gesteckt?" wollte Sabine vielsagend lächelnd wissen. "Wie heißt denn der glückliche, neue Mann in deinem Leben, den wir hoffentlich bald zur Begutachtung präsentiert bekommen?"
"Nichts da, es gibt keinen," konterte Charlotte vehement, "von den Egoisten bin ich kuriert und gebe mich nicht noch ´mal mit solchem nervenaufreibenden Firlefanz ab. Aber, wo ist Benny?"
Der sitzt g'rade in seinem Zimmer und macht Hausaufgaben am Computer. Ich glaube er brennt darauf, dir ein paar neue Begriffe beizubringen," erklärte Sabine. "Bei mir hat er immer kein Glück, weil ich keine Zeit habe und auf die Schnelle auch nichts davon verstehe. Das frustriert ihn mächtig, und deshalb hat er schon oft gefragt, wann du endlich wieder ´mal kämst."

So klopfte Charlotte nach einer aufmunternden Tasse Kaffee mit ihrer Tochter schließlich an Bennys Tür, hinter der es diesmal relativ still zuging und kein "peng, peng" oder ähnliche Geräusche ertönten.
Benny starrte so gebannt auf den Monitor, daß er seine eintretende Großmutter gar nicht richtig hörte oder wahrnahm und sogar zusammenzuckte, als sie ihn zur Begrüßung ansprach.
"Hey, Oma," nickte er nur beiläufig in ihre Richtung, so daß sie gar nichts von seiner angeblichen Freude auf ihren Besuch bemerkte.
"Augenblick, ich hab' da ein Problem und hab' vergessen, wie man das macht."
"Laß' doch ´mal seh'n," meinte Charlotte wie über der Sache stehend und zog sich den zweiten Stuhl heran, indem sie erst sämtliche darauf geworfene Klamotten einfach "cool" aufs Bett kippte.
"Wo liegt der Hund begraben, was willst du denn wissen?"
"Ach, da kannst du mir nicht helfen, Oma. Ich muß diesen Text auf ein anderes Programm rüberbringen und weiß nicht mehr, wie das geht," murmelte er ziemlich verzweifelt. "Aber bitte, stör' mich jetzt nicht. Vielleicht fällt's mir wieder ein."
"Da mußt du diese Taste festhalten und diese andere dazu drücken und das ganze Stück markieren, soweit wie du's kopieren willst. Und dann klickst du mit der linken Maustaste "Bearbeiten" und anschließend "Kopieren" an, holst über "Datei Öffnen" das andere Pro-gramm rein, gehst zu der Stelle, wohin du's kopieren willst, klickst wieder "Bearbeiten" und diesmal "Einfügen" an. Und fertig ist der Zauber und du kannst es dann im früheren Programm endgültig löschen oder auch stehen lassen, oder du kannst auch bei dem ersten Programm stattdessen auf "Bearbeiten" und "Ausschneiden" gehen und dann im zweiten Programm auf "Bearbeiten" und "Einfügen", denn dann ist es sofort gelöscht. Ich mache das aber immer mit "Kopieren" und "Einfügen". Das ist zwar umständlicher, da kann mir aber der Text nicht verloren gehen, falls ich was falsch mache."
Völlig stumm und entgeistert starrte Benny auf den Bildschirm und immer wieder auch auf Oma Lotte.
"Mensch, Oma, woher weißt du das denn? Du bist ja ganz große Klasse!" brachte er schließlich heraus und haute ihr anerkennend wie seinesgleichen mit voller Wucht kumpelhaft auf den Rücken, daß sie das Lob noch etliche Tage schmerzhaft spüren würde.
Auf der Welle seiner Ehrfurcht vor ihr durfte sie sich jedoch nichts anmerken lassen, biß die Zähne zusammen und erhob sich gespielt unbekümmert.
"Ich hab' mir halt einen Computer angeschafft und erfolgreich einen Kurs besucht, damit ich dir ein bißchen unter die Arme greifen kann. Und beim Fortgeschritte-nenkurs in vier Wochen bin ich schon angemeldet.
Und übrigens, wenn du ´mal einen Internet-Anschluß haben solltest, dann kannst du mich auch unter meiner E-mail-Adresse erreichen und meine Homepage anklicken unter "www.flottelotte.de"."
Und nach dem absolut gelungenen Auftritt hinterließ sie einen durch die wachsende Konkurrenz äußerst moti-vierten und offensichtlich schon lebenserfahrenen Enkel, der ihr vor Entsetzen noch warnend nachrief:
"Um Himmels Willen, Oma! Die Homepage mußt du "www.oma.de" oder so nennen. "flotte Lotte" klingt doch zu sehr nach Sexwerbung."